Dienstag, 14. Juni 2011

Trauer - eine Kurzgeschichte


„Das also ist Trauer. Sie geht in Wellen.“, denkt er in beinahe wissenschaftlichem Interesse, während die feuchten Rinnsale an seinen Wangen trocknen. In den Wellentälern steht er neben sich. Kühl und distanziert reflektiert er über sich und über das geschehene. „Schon merkwürdig“, seufzt er. „Letzte Woche war die Welt noch in Ordnung.“ Letzte Woche ärgerte er sich über seine Arbeit, über seine Frau, über ein nicht aufgeräumtes Auto, über eine unnötige Ausgabe. Er ärgerte sich über Familienzwistigkeiten und unerbetene Einmischungen. Über Neurosen und Neuröschen von Leuten, die sich für unheimlich wichtig halten. Heute verblasst all das in tiefster Bedeutungslosigkeit. 

Die warmherzige Anteilnahme vieler Menschen in seinem Umfeld schnürt ihm die Kehle zu. Die Ignoranz anderer nimmt ihm den Atem. Er schluckt hart. Nein, er gestattet sich nicht schon wieder zu weinen. Er ringt um Fassung. Dieses Mal gewinnt er.

„Pah!“, schnaubt er zornig, als er sich an die Frage im Bestattungsinstitut erinnert, ob am Grab ein „Vater unser“ gesprochen werden sollte. „Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden? Von wegen!“ war sein erster wütender Gedanke. „Alles in Ordnung?“ fragt seine Frau mit tränenverschleiertem Blick. „Ja, das wird schon...“ ist die Antwort, bei der beide wissen, dass sie wahr und gelogen zugleich ist. Sie wissen beide, dass die Trauer irgendwann verblassen wird. Sie wissen beide aber auch, dass es noch schlimmer werden wird. Sie wissen beide, dass sie für sich da sein werden. Immer. Samstag nächste Woche ist die Beerdigung. Bis dahin ein nicht enden wollender Albtraum. Er fürchtet sich vor diesem Tag. Und den folgenden, an denen von ihm erwartet wird, dass er wieder funktioniert.

Der Sohn tappst freudestrahlend durch die Wohnung – seine ersten Schritte. Er freut sich und lacht mit seinem Sohn, unmittelbar gefolgt von einem schlechten Gewissen. „Darf ich trotzdem Spaß haben? Darf ich mich trotzdem meines Lebens freuen?“

Seine Frau geht mit Sohn und Hund mit einer Freundin in die Stadt. Sie gönnt ihm Ruhe – morgen wird er sich revanchieren und ihr ein paar Stunden Ruhe gönnen. Er fühlt die nächste Welle heran rollen. Er weiß, dass sie ihn wieder brechen wird. „Das also ist Trauer. Sie kommt in Wellen...“

1 Kommentar:

  1. Liebe Familie Vetter,
    ich kann so mit euch mit fühlen-und ich weiß, das dass absolut kein Trost ist, dass kann es auch nicht sein. Ich will euch damit nur sagen, dass da jemand an euch denkt und mit euch fühlt.
    Mein Mitgefühl gilt euch und eurem Raphael

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